25/08/2023

Wie Rechtsprechungsauswertung demokratiefördernd wirken kann

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Ein niedriger sozio-ökonomischer Status (SES; engl. ‚socio-economic status‘)[1] steht in engem Zusammenhang mit einem geringen Institutionsvertrauen und Misstrauen gegenüber dem Staat: 27 Prozent der Befragten einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus dem Jahr 2017 vertrauen dabei insbesondere den Gerichten nicht.[2] Damit sind sie nicht alleine, selbst von staatlicher Seite besteht Misstrauen gegenüber der Dritten Gewalt, zumindest im europäischen Nachbarland: Im Jahr 2019 wurde in Frankreich die personifizierte statistische Auswertung von Urteilen unter Strafe gestellt: bis zu 300.000 Euro Geldstrafe oder Freiheitsentzug[3] die französische Justiz scheint Transparenz zu fürchten. Dass derartige statistische Analysen auch in der Bundesrepublik Deutschland Abweichungen von Durchschnittswerten offenlegen und die Ergebnisse für Unmut sorgen könnten, zeigt instruktiv der Fall Michael Reinke, Vorsitzender des Landgerichts Berlin. Hier urteilt ein Berliner Richter konsequent „in eklatantem Widerspruch zu den vom BGH aufgestellten Anforderungen“ in Mietrechtsfällen.

Juristisch schwer nachvollziehbare Urteile werden täglich gesprochen. Der Bevölkerung bleibt nur keine Möglichkeit, sich einen umfassenden Überblick über das gesprochene Recht zu verschaffen, denn: Es mangelt an der Veröffentlichung von Urteilen. Weniger als ein Prozent aller Urteile werden in Deutschland veröffentlicht. Gleichzeitig kam beim Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“ im April 2023 heraus, dass die Anzahl an Klagen vor Gerichten signifikant zurückgeht – die vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) in Auftrag gegebene Studie nannte als einen Grund, die Schwierigkeiten und damit einhergehenden Unsicherheiten bei der Abschätzung der Erfolgsaussichten.[4]

1. Justizielles Datenteilen und -auswerten als Vorteile für die Gesellschaft

Hier könnte das strukturierte Datenteilen in Bezug auf Rechtsprechung ein geeignetes Mittel darstellen, den genannten demokratiegefährdenden Effekten entgegenzuwirken. Im Bereich der Dritten Gewalt sollte Datenteilen bewusst für das Gemeinwohlinteresse gedacht, konzipiert und zur Verfügung gestellt werden, um gewinnbringend für den Rechtsstaat und die Bevölkerung wirken zu können. Denn nicht nur schafft eine transparente Justiz und Verwaltung ein Kontrollelement seitens der Bevölkerung, was wiederum demokratiestärkend wirken kann, auch dient das Datenteilen dem Empowerment der Bürger:innen vielleicht selbst den Rechtsweg zu bestreiten.

a) Kontrollelement

In einem funktionierenden Rechtsstaat sollte Bürger:innen die Möglichkeit gegeben werden, sich ohne Hindernisse über die Judikative informieren zu können. Dies ist auch im Öffentlichkeitsgrundsatz nach Art. 6 EMRK festgelegt. Befürchtungen über Arbeitsüberlastung der Richter:innen, die ihre Urteile veröffentlichen müssen oder die Angst, dass qualitätsarme Urteilsbegründungen zu Tage treten können nicht als überzeugende Argumente gegen umfassende Rechtsprechungsanalysen dienen: Denn eine „Geheimjustiz“ kann nicht das Ziel sein. Eine funktionierende Justiz muss es ertragen, dass Bürger:innen sich ein Bild über das gesprochene Recht machen können, um die Ergebnisse von Gerichtsprozessen auch kritisch hinterfragen zu können. Hier besteht enormes Potential das Kontrollelement innerhalb des Demokratieprinzips aktiv auszuleben.

b) Empowerment

Zugleich können umfassende Auswertungen von Rechtsprechung Bürger:innen dazu ermutigen, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen. Hier könnten beispielsweise Verfahrensdauern und Kostenrisiken offengelegt werden. Vor allem vor dem Hintergrund, dass laut der vom BMJ in Auftrag gegebene Studie im April 2023 deutlich wurde, dass Unsicherheiten in Bezug auf den Prozess dazu beitragen, dass Bürger:innen von einem Rechtsstreit absehen. Zusätzliches Wissen über Gerichtsprozesse kann vorteilhaft wirken, denn demokratische Willensbildung ist wissens- und informationsbasiert. Ohne Wissen und Information, sind Bürger:innen nicht in der Lage sich ein selbst ein Bild von den Gegebenheiten zu machen. Ohne Wissen und Informationen, sind Bürger:innen gezwungen, sich auf die Selektion anderer zu verlassen. Das muss nicht zwingend schlecht sein, handelt es sich um eine repräsentative oder qualitativ sinnvolle Auswahl an Informationen. Es widerspricht in Bezug auf Gerichtsentscheidungen aber dem Prinzip des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Gerichtsverhandlungen sind öffentlich abzuhalten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist es verfassungsrechtlich gewollt, dass Bürger:innen Gerichtsverfahren beiwohnen und als Kontrollelement die Justiz überwachen. Die Informationsgesellschaft und Digitalisierung hat neue Möglichkeiten hervorgebracht wie extrem das Öffentlichkeitsprinzip von einer einzelnen Person gelebt werden kann. Während es früher eine Art „natürliche Begrenzung“ gab – Bürger:innen konnten nur eine Gerichtsentscheidung vor Ort in persona verfolgen – bestünde jetzt die Möglichkeit Ergebnisse dieser Verhandlungen komprimiert und auf einmal zu sichten. Das ist als positiv im Sinne des Rechtsstaats zu bewerten.

2. Bedingungen

Bedienung für einen solchen positiven Wandel sind zum einen Open-Access-Publikationen aller- und nicht nur als „veröffentlichungswürdig“[5] empfundenen – Urteile seitens der Gerichte, sowie die technischen Möglichkeiten statistische Auswertung von Urteilen und Verwaltungsentscheidungen vorzunehmen. Dies bedacht, birgt der Zugang zu diesen Informationen aber enormes Potential: Nicht nur können Abweichungen vom Durchschnitt offengelegt und genauer Prüfung unterzogen werden, auch können Verfahrensausgänge und Verfahrensdauern mehr Transparenz und Möglichkeiten für kritische Betrachtungen und im besten Fall Verbesserungen des Status quo bringen, indem Forschung, Praxis und Privatpersonen davon profitieren. Dies allerdings nur, wenn der Zugang zu den Analysen niedrigschwellig erfolgt und alle Bürger:innen Zugriff auf Rechtsprechungsauswertungen erhalten. Wenn alle Einblick in die justiziellen Daten erhalten, dass sind die Effekte eines offenen Datenaustauschs innerhalb der Justiz und Verwaltung: Mehr Innovationen und Erkenntnisse seitens der Forschung, konstruktiveres und gezielteres Handeln seitens der rechtlichen Praxis und Teilhabeeffekte, sowie Bestärkung und Kontrolle seitens der Bevölkerung.

3. Fazit

Legal-Tech-Anwendungen beschränken sich oftmals auf die Optimierung interner (Unternehmens-)prozesse. Dabei ist der Meta-Blick auf eine offene Datenkultur und statistische Auswertungen – besonders im Bereich der Justiz – lohnenswert, da durch diese Perspektive neue gesamtgesellschaftliche Effekte hervorgerufen werden könnten. Rechtsprechungsanalysen, die für die Bevölkerung niedrigschwellig zugänglich sind, haben enormes Potential demokratisierend zu wirken, indem sie mehr Transparenz bieten, welche zum einen Bürger:innen dazu ermutigen können, ihre Rechte geltend zu machen und zum anderen als wichtiges Kontrollelement innerhalb des Demokratieprinzips wirken können. Vor dem Hintergrund der wachsenden Möglichkeiten der Informationsgesellschaft sollte dieses Potential nicht verkannt werden.


[1] Der SES wird i.d.R. über den Beruf, das Einkommen und das Bildungsniveau definiert, siehe Ditton/Maaz, in: Reinders/Ditton/Gräsel/Gniewosz (Hrsg.), Empirische Bildungsforschung 2011, S. 193 Zur Bestimmung dienen Klassen- bzw. Schichtmodelle, siehe S. 196.

[2] Hilmer u. a., Working Paper Forschungsförderung. Einstellung und soziale Lebenslage., S. 20.

[3] Art. 33 des französischen Justizreformgesetzes Nr. 2019-222.

[4] Meller-Hannich/Höland, Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“, S. 106.

[5] Denn alle Bundesgerichte sind sich einig: „Zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die öffentlichkeit[sic] ein Interesse hat oder haben kann.“ Voraussetzung für den Rechtsanspruch auf Zugang zu Entscheidungen ist demnach die Veröffentlichungswürdig jener Entscheidungen, siehe BVerwG, v. 26. Februar 1997, 6 C 3.96, 1997.


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